Uns mögen diese Äpfel nicht besonders schmecken. Für viele Vögel und Insekten sind sie lebensnotwendig
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BIODIVERSITÄT

Kleine Rückzugsorte für Natur und Menschen

Mit vergleichsweise geringem Aufwand kann viel erreicht werden, um das ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen. Davon profitieren alle. Es braucht dazu nur etwas Überzeugung und Tatkraft. Zwei Bürgermeister erzählen.
von  Wolfgang Rössler , 10. November 2023

Wenn man etwas zum Besseren verändern möchte, reicht es manchmal, an winzigen Rädern zu drehen. Etwa mit einem kurzen Hinweis an die Gemeindebediensteten, das Gras an den Rändern der Flurwege künftig nur noch zu mähen, wenn die Blätter schon von den Bäumen fallen.

Bis dahin aber sollten sich links und rechts der schwach befahrenen Wege Insekten zu Hause fühlen. „Wenn man Nachhaltigkeit ernst nimmt, gibt es viele kleine Dinge, die sich ganz einfach umsetzen lassen“, sagt Erwin Preiner, Bürgermeister der kleinen burgenländischen Gemeinde Winden am See.

Mag schon sein, dass die Wildnis am Straßenrand dem einen oder der anderen nicht gefällt. Weil es immer noch Leute gibt, die der Meinung sind, dass Grünflächen aussehen sollten wie der Rasen in Schönbrunn. Aber das dürfte eine Minderheit sein. Auf jeden Fall sind Ortschef Preiner bisher keine Beschwerden über das bisschen mehr an Natur zu Ohren gekommen – mit dem seine Gemeinde einen kleinen Beitrag gegen das Insektensterben leisten möchte.

Zur Person

Erwin Preiner ist Bürgermeister der kleinen burgenländischen Gemeinde Winden am See.

Die Zahl der Insekten sinkt rasant

Da ist eine durchaus besorgniserregende Entwicklung, über die immer noch wenig gesprochen wird – und das, obwohl sie sich recht einfach beobachten lässt. Etwa wenn man sich erinnert, wie viele von den Viechern einst nach einer längeren Autofahrt an der Windschutzscheibe klebten – und wie viele es heute sind. Seit den 1980er-Jahren ist die Biomasse an Insekten weltweit massiv zurückgegangen.

Die Ursachen sind vielfältig: Die Klimaerwärmung verändert langfristig die Lebensräume, neue Arten werden eingeschleppt und bringen das natürliche Gleichgewicht durcheinander. Dagegen kann eine kleine Gemeinde wenig machen. Wohl aber gegen zwei andere wichtige Faktoren: Pestizide und fehlende Grünflächen.

Das Bewusstsein ist gestiegen

Dass die langen Gräser und Blumen an den Wegesrändern gut akzeptiert werden, liegt wohl auch daran, dass das Bewusstsein für die Ökologie zuletzt gestiegen ist. Bürgermeister Preiner merkt das auch bei den örtlichen Winzern: „Sie haben den Einsatz von Pestiziden deutlich reduziert“, erzählt er. Und zwar freiwillig, nach der Devise: „Sonst vergiften wir uns am Ende noch selbst.“

Preiner ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert Bürgermeister seiner Gemeinde. Bei seiner ersten Angelobung gehörten knatternde Autos ohne Katalysator noch zum Ortsbild, für Klimaschutz interessierten sich außerhalb von akademischen Zirkeln nur wenige Menschen ernsthaft. Manche Ortschefs verstehen sich nach so vielen Jahren im Amt als alte Hasen, denen man nichts mehr erzählen muss. Preiner nicht: „Ich bin stolz darauf, dass ich immer noch dazulerne“, sagt er. Nicht nur, aber besonders auch, wenn es darum geht, seine Gemeinde ökologischer zu machen.

Wenn man Nachhaltigkeit ernst nimmt, dann gibt es viele kleine Dinge, die man einfach umsetzen kann.

Erwin Preiner, Bürgermeister von Winden am See

Auch deshalb gehört Winden am See zu drei burgenländischen Pilotgemeinden, die gemeinsam mit dem auf Fragen der Nachhaltigkeit spezialisierten Beratungsunternehmen Pulswerk ausloten, wie man das dörfliche Leben noch mehr in Einklang mit der Natur bringen kann – um sich zugleich auch für die Herausforderungen der Erderwärmung optimal zu wappnen.

Etwa durch die gezielte Pflanzung von besonders hitzeresistenten Bäumen und Sträuchern. Wenn es im Sommer wieder einmal so richtig heiß wird, spenden sie Schatten und Kühle. Zugleich benötigen sie wenig Wasser, mit dem man in Winden schon seit geraumer Zeit sparsam umgeht.

Einstimmigkeit im Gemeinderat

Winden ist eine stark ländlich geprägte Gemeinde am Neusiedler See – und das soll auch so bleiben. Es gibt mehrere Dorferneuerungskonzepte, die einstimmig im Gemeinderat beschlossen wurde. „Es gibt eine überparteiliche Einigkeit darüber, dass der dörfliche Charakter erhalten bleiben muss“, sagt Preiner. Und zugleich soll die Gemeinde so ausgerichtet werden, dass auch künftige Generationen dort gut leben können.

Wie man das am besten angehen könnte, darüber tauscht sich Preiner regelmäßig informell mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern anderer Gemeinden aus. Und darüber hinaus gibt es regelmäßige Workshops, bei denen die jeweiligen Konzepte auf Herz und Nieren geprüft werden – etwa darauf, ob sie den von den Vereinten Nationen 2015 formulierten 17 Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 entsprechen. Dabei geht es nicht nur um Fragen von Ökologie und Klimaschutz, sondern auch um Armutsprävention, Bildung für alle und Chancengleichheit.

Wiesen am Wegesrand sind Oasen für Bienen und andere Insekten.

Moderiert werden die Workshops von Pulswerk-Mitarbeiterin Nadine Schneiderbauer. Sie ist besonders beeindruckt vom Mut der teilnehmenden Gemeindevertreter: „Sie stellen sich der Diskussion, sprechen offen und produktiv über Stärken und Schwächen der jeweiligen Konzepte“, sagt sie. Es ist nicht angenehm, wenn ein grünes Herzensprojekt in der Runde auseinandergenommen wird. Am Ende führt das aber dazu, dass es noch besser wird.

Es gibt kein Patentrezept

Bei den Workshops nimmt sich Schneiderbauer bewusst zurück, damit sich die Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinden offen austauschen können: Wer hat welche Erfahrungen gemacht? Vor welchem Fehler möchte man andere bewahren? Auf welche möglichen Probleme muss man sich einstellen? Moderatorin Schneiderbauer kommt ins Spiel, wenn es darum geht, die einzelnen Projekte nach bestimmten Kriterien abzuklopfen: „Ich stelle dann bestimmte Werkzeuge zur Verfügung“, sagt sie.

Etwa eine „Wirkungsmatrix“, anhand derer sich ablesen lässt, wie viel eine bestimmte Maßnahme in Bezug auf gewisse Nachhaltigkeitsziele bringt. Manchmal bringt sie sich auch ein, um den Blick auf neue Aspekte zu richten, an die bis dahin noch niemand gedacht hat. Klar ist für Schneiderbauer aber auch: Ein Patentrezept für mehr Ökologie und Nachhaltigkeit im ländlichen Raum gibt es nicht: „Jede Gemeinde ist einzigartig und individuell.“ Bestehende Konzepte müssten stets an die Gegebenheiten vor Ort angepasst werden.

Tafeln sollen für Aufklärung sorgen

Denn auch die Herausforderungen sind überall andere. Preiners Amtskollege Jürgen Resch im gut 150 Kilometer entfernten Litzelsdorf nahe Oberwart beschäftigt sich gerade mit dem Thema Bewusstseinsbildung. Auch in seiner Gemeinde steht die Schaffung von Lebensraum für Bienen und andere Insekten auf der Öko-
Agenda ganz oben. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Wiesen angelegt, wo die Pflanzen nach Herzenslust wachsen können. Das gefällt vielen, aber nicht allen. Manche meckerten: Ist die Gemeinde zu faul zum Mähen? „Es sieht eben etwas anders aus, wenn das Gras nicht geschnitten wurde“, sagt Resch. Kommendes Jahr will er Tafeln anbringen lassen, mit einer Erklärung. Sein erstes Ziel hat er trotzdem bereits erreicht: „Die Leute bleiben stehen und denken nach“, sagt er.

Zur Person

Jürgen Resch ist Bürgermeister der Gemeinde Litzelsdorf

Wenn es nach dem Bürgermeister geht, sollen die „Bienenwiesen“ aber nicht bloß am Gemeindegrund stehen. Schon seit einiger Zeit bietet Litzelsdorf ein ganz besonderes Service für alle Einwohnerinnen und Einwohner an: Wer im Garten eine Oase für Insekten einrichten möchte, kann sich direkt an die Gemeinde wenden. Dort wird kostenloses Saatgut zur Verfügung gestellt, auf Wunsch kommen auch Gemeindebedienstete vorbei und sorgen mit den entsprechenden Gerätschaften dafür, dass die Pflanzen auch so richtig gut wachsen. Immerhin: „Im Vorjahr wurden so acht neue Wiesen angelegt“, sagt Bürgermeister Resch.

Manche mögen die eigenwilligen Früchte der Streu­obstwiesen verschmähen. Dabei kann man daraus köstliche Gerichte zaubern.

Litzelsdorf beteiligt sich aber auch an einer weiteren burgenlandweiten Aktion, mit der die Biodiversität gefördert werden soll. Die besonders im Süden des Landes noch recht verbreiteten Streuobstwiesen sollen erhalten und bestenfalls sogar noch ausgebaut werden. Jahr­hun­der­te­lang gehörten die eigenwilligen Bäume zum Dorfbild. Sie wuchsen wild, manche wurden veredelt, manche nicht.

Manche Äpfel waren im ganzen Ort begehrt, aus anderen konnte man immerhin Most pressen. Was all diesen Obstwiesen gemein ist: Man braucht Zeit und Muße zum Ernten und der Ertrag ist deutlich geringer als bei den großen Plantagen. Geld verdient man keines damit.

Kostbarkeiten für Menschen und Vögel

Auch deshalb mussten viele der alten Bäume weichen. Damit gingen aber auch Lebensräume für viele Insekten verloren, Futter für Vögel und nicht zuletzt ein Stück Dorfgeschichte. Diesen Trend wollen nun immer mehr burgenländische Gemeinden stoppen: „Die Gegend rund um Litzelsdorf ist ziemlich hügelig, die Streuobstwiesen gehörten eigentlich immer dazu“, sagt Bürgermeister Resch. „Wir wollen sie erhalten.“

Seine Gemeinde beteiligt sich mit anderen in der Region am Pilotprojekt „Streuobstwiesn“. Die Initiative will nicht nur ein Zeichen für Biodiversität setzen und die Notwendigkeit von natürlich gewachsenen Lebensräumen im öffentlichen Bewusstsein verankern. Es geht auch darum, die vielen alten Rezepte für Köstlichkeiten mit Streuobst wieder aufleben zu lassen.

Das bedeutet Biodiversität

  • Vielfalt. Unter Biodiversität versteht man die Vielfalt aller auf der Welt lebenden Organismen, Lebensräume und Ökosysteme.
  • Bedrohung. Durch die Begleiterscheinungen der Zivilisation nimmt die Artenvielfalt rapide ab. Die Menge der Fluginsekten ist beispielsweise in Deutschland seit 1989 um 75 Prozent zurückgegangen. In Österreich ist der Rückgang etwas weniger dramatisch. Ursachen sind fehlende Lebensräume, Pestizide, aber auch die Folgen der Erderwärmung.
  • Auswirkungen. Dieses Massensterben hat auch Auswirkungen auf die Menschen. Drei Viertel aller Nutzpflanzen werden von Insekten bestäubt. Mistkäfer leisten beispielsweise schwer ersetzbare Aufräumarbeit für die Landwirtschaft.
  • Klimaschutz. Eine hohe Artenvielfalt kann erwiesenermaßen den Klimawandel bremsen. Mischwälder nehmen mehr Kohlenstoff auf als Monokulturen. Eine artenreiche Wiese entzieht der Atmosphäre viel mehr Treibhausgas als ein Rasen.